Heute früh fallen mir die kleinen Regentropfen am Fenster auf, wie von einem Zerstäuber ist das Fenster benetzt, ich schaue hindurch in Regen und Sturm und denke an das Wasser in meinem Gehirn und an den Text, den ich heute über das Wasser schreiben will, und an das Wasser in meinen Gedanken und lande schnell bei Fallada.
„Von allen Fenstern aus sehen wir Wasser“, sagt er, als er aus den Fenstern seines „Gütchens“ im Mecklenburgischen schaut. Ich sehe das Wasser am Fenster, die Regentropfen am Morgen, den Zerstäuber, der das Wasser wie eine Schicht auf alles aufträgt, auf Glas und Worte. Und so lass ich mich davonschwemmen von meinen Gedanken, und sie haben tatsächlich mit FALLada zu tun, wie er wieder und wieder sagt: „Von allen Fenstern aus sehen wir Wasser, lebendiges Wasser, das Schönste auf Erden.“
Und wie er sagt: „Du kannst jeden Tag das Meer sehen“, wie er es schreibt an seinen Freund, der auf der Insel Rügen lebt, und wie er ihn beneidet um die Uferlosigkeit.
Und dann die Frau Siebenhaar aus dem Roman „Der ungeliebte Mann“, die Angst hat um ihren blinden Mann, der in einen der vielen Seen hier fallen könnte. Die vielen Seen. Der FALL Wasser. Der FALL Fallada.
Das Wasser spielt die entscheidende Rolle für Falladas Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, als die Nazis in Deutschland an die Macht kommen. Biografen sagen zwar, dass er wegen der „Bäume und der Bienen“ in Deutschland geblieben sei. Aber das stimmt nicht.
Womit konnte er denn das Fließen der Sprache erreichen, den Fluss der Gedanken, der die Worte hervorbringt? Das Wasser ist das beste, wahrhafteste, wirklichste, eindeutigste Ingrediens, ja fast Synonym für das Schreiben. Das Bild, wenn am Sonntag, „gesotten vom Küchenherd“, Frau und Haustöchter in den See springen und frisch, mit dem Wasser des Sees benetzt, am Mittagstisch sitzen. Welch ein Bild. Welch ein bezaubernd erfrischendes Bild. Und wie er es zeichnet:
„Mit 15 Schritten sind wir vom Hause am Wasser. Der See ist sehr tief, sein Wasser kristallklar, noch in der starken Sommerhitze bleibt es kühl. Ist im August der Tag sehr heiß, ist es beinahe Essenszeit, so stürzen, gesotten vom Küchenherd, Hausfrau und Haustöchter erst einmal in den See. Ein wenig feucht, aber kühl und lächelnd setzen sie sich an den Tisch. Und dieser See an meiner Tür ist einer von fünf Seen.“
So beschreibt Hans Fallada die unvergleichliche Landschaft. „Und dieser See an meiner Tür“ — welch ein schöner Satz. Mein Lieblingszitat.
Das Wasser war ihm hier nie in den Adern gefroren. Aber das Blut. Der Schriftsteller bleibt an dieser sichersten Quelle Gottes, geht nicht außer Landes, als die Nazis in Deutschland die Macht übernehmen. Um von allen Fenstern aus immer wieder das Wasser zu sehen. Um zu schreiben, zu fließen, ohne ein „How do you do“ im Nacken oder eine Sprühflasche mit Nervengift im Fenster. Und ohne Gefahren des Überschwemmens oder des Stockens. Und die Frau Siebenhaar überlässt ihren blinden Mann seiner Intuition, zu überleben. Und er fällt in keinen See. Er balanciert mit traumwandlerischer Sicherheit von Ufer zu Ufer.
Die mecklenburgische Erde war fruchtbar, 20 Bücher warf sie ab, den Schriftsteller allerdings vor die Füße, die Stiefel der neuen Machthaber. Die Nazis machten kurzen Prozess mit dem widerspenstigen Autor, setzten ihn auf die Schwarze Liste und versuchten ihm das Wasser abzugraben. Doch das war in Mecklenburg nicht so leicht, wo es Sölle und Moore, Schluchten und unterirdische Quellen gibt. Resilienz gegen die Macht war hier möglich. Und so schrieb sich Fallada fast um Kopf und Kragen, und er schrieb mutig vom Wasser, das ihm bis zum Halse stand. Und ihn 1944 ins Gefängnis brachte, spülte.
„Hinter Gittern schreibt er sein wichtigstes Buch, sein ungefiltertes Herz, seine innerste Wahrheit. Er schreibt seine aufgestauten Erinnerungen an die zwölf in Nazideutschland verbrachten Jahre. Jetzt oder nie. Draußen tobt der Hitlerkrieg in seiner letzten todbringenden Metamorphose und drinnen, im Gefängnis, stellt sich Hans Fallada dagegen auf, mit seinem Herzen, mit seinem Gedächtnis, mit seiner Ehrlichkeit und mit der Kraft seiner Gestaltung. Und mit seiner Wut. Über die Jahre zerstörten und verhinderten Lebens.
Hatten die in dem mecklenburgischen Dorf Carwitz verbrachten Jahre 1933 doch einst wie die Einfahrt ins Paradies begonnen. Die Heirat mit dem Hamburger Arbeitermädchen Anna, der Welterfolg von „Kleiner Mann, was nun?“ und die Verlagsverbindung mit Rowohlt — alles war ein gutes Gepäck für das ersehnte Schriftstellerleben auf dem Lande. Für Fallada wird es die produktivste Zeit seines Lebens, er schreibt mehr als ein Dutzend Bücher, darunter ‚Wolf unter Wölfen“ und die „Geschichten aus der Murkelei‘. Doch seine Diskrepanzen mit faschistischen Behörden werden immer mehr zu handfesten Konflikten.
1935 wird er zum unerwünschten Autor in Deutschland erklärt. Danach zieht er sich auf Unterhaltungsliteratur zurück, verliert später seinen Verlag, die ungedruckten Manuskripte stapeln sich im Schreibtisch. Das ‚Gütchen‘ am See ist inzwischen zum Asyl für die ausgebombten Verwandten seiner Frau geworden. Fallada entwickelt Aversionen gegen die fremden Gesichter auf seinem Hofe und reagiert sich mit Scheibenschießen im Garten ab. Sein Groll gegen die ehemalige Gefährtin wächst. Die Situation eskaliert. Im August 1944 kommt es zur Auseinandersetzung mit seiner gerade geschiedenen Frau, bei der ein Schuss fällt. Der herbeigerufene Arzt, der den Patienten ausnüchtern soll, schickt nach dem Gendarmen. Fallada kommt in Untersuchungshaft.
Am 23. September 1944, zwei Tage nachdem er den Roman ‚Der Trinker‘ im Gefängnis beendet hat, nimmt er ein neues Blatt. Er schreibt das Wort: ‚Der Kindernarr‘. Was schreiben Sie, Herr Fallada? Na, wieder Kindergeschichten. Er dreht das Blatt — schreibt weiter. An einem Januartage des Jahres 1933. Er schreibt über den Reichstagsbrand.
Er hat kein Kalendarium dabei, es war Februar, egal. Aber wie sie Göring kokeln helfen wollen, Rowohlt und er, daran erinnert er sich punktgenau. Er schreibt die 90 Seiten bewilligten Gefängnispapiers hin und zurück, dann dreht er die Seiten, schreibt zwischen den Zeilen, dreht noch mal und noch mal, schreibt in Sütterlin, dann mal lateinisch. Noch kleiner als im Trinker-Roman ist jetzt die Schrift. Es ist fast ein Faden, eine dünne, oszillierende Fieberkurve. Denn hier geht es nicht mehr nur um das Schnäpschen am Morgen gegen das flaue Gefühl im Magen, gegen die Alkoholsucht.
Hier geht es um alles. Um jahrelang aufgestaute Wut und Selbstekel, um die Selbstverachtung für eigene Zugeständnisse und um den puren Hass. Es geht um den Hass gegen die Nazis, es geht um die vielen kleinen Nadelstiche, um Spitzel und Denunzianten, Korruption und Erpressung, die Hölle des täglichen Lebens in Deutschland, die er miterlebte. ‚Eine poetische Lifeschaltung mitten in den Wahnsinn‘ nennt der Spiegel später das Buch, als es endlich, 2009, über 60 Jahre nach seiner Entstehung, erscheint“ (aus: Sabine Lange, Dachsbraten hinter Gittern, Krachkultur, 16/2014).
Das Buch zeigt in deutlichen Strichen die andere Seite der Carwitzer Lebenswelt, wie sie derselbe Schriftsteller in seinen Erinnerungen ein paar Jahre zuvor — „Heute bei uns zu Haus“ — beschrieben hat. Das liebliche Seenland, wo noch immer die Bäche und Flüsschen eilig „in klaren Wellen über den kiesigen Grund laufen“ und die Wälder so feierlich still standen, verwandelt sich in eine von Blut und Verderben gezeichnete apokalyptische Landschaft, die unter dem Donnern der fernen Bombergeschwader über den Feldern mit den gelben Getreidehocken erzittert.
Fallada träumt sich in den Bauch der Erde. Am Ende seines Buchs findet er die Lösung aus der für ihn und seine Familie lebensbedrohlichen Situation: Da baut er eine Höhle unter dem Haus, unter seinem Gütchen. Hätte er gewusst, wie schlimm alles kommt, hätte er es tatsächlich gemacht.
Jetzt ist es nur ein Spiel. Aber es erhält seinen Mut, vielleicht auch sein Leben.
„Noch nie empfand ich es so wie unter Hitlers Regiment, dass der Mensch, ständig bedroht in seinem wesentlichsten Bestand, etwas haben muss, wohin er sich flüchtet mit seinen Träumen und seinen Hoffnungen. Mein Traum von der Zuflucht im Bauch der Erde entzieht mich jeden Tag meinen Feinden, stärkt mich für den Morgen ... Hier stehen die verbotenen Bücher auf den Regalen, an den Wänden hängt entartete Kunst, und durch das Gehirn ziehen landesverräterische Gedanken — ungestört, richtig! Hier ist meine Kraftquelle, die kein Nazi erschüttern kann!“
Er malt sich gern aus, meist vor dem Einschlafen, wie es wäre, so ein Verlies unter der Erde, versteckt hinter der Tür zum Keller. Er stellt sich vor, wie sie alle, Frau und die drei Kinder, am Abend eines der ersten Kriegstage hinter der Kellertür einfach verschwinden. Ihr unterirdisches Reich ist jedoch kein dunkles Erdloch, es gleicht eher einem Palast, die Stufen glänzen und die Wände sind mit Sternen ausgeschlagen. Es fehlt an nichts. Die großen Zimmer sind vollständig eingerichtet.
Neben den hohen Bücherregalen stehen Schränke mit Spielen für die Kinder, an ein Nähabteil für seine Frau ist auch gedacht, und es gibt eine voll elektrische Küche. Unendliche Vorräte und Konserven sind hier eingelagert, der Krieg soll ihnen nichts anhaben können.
Doch das unterirdische Paradies soll auch mit der Welt verbunden sein und daher mehrere Ausgänge haben. Einer führt nach Hamburg mit Blick auf die Außenalster und ein anderer direkt auf den Potsdamer Platz. Drei nebeneinanderliegende Fenster verbergen Aquarien mit wunderschönen Seerosen und herrlich leuchtenden farbigen Fischen.
Auch eine Frischluftanlage gibt es hier unter der Erde, ein Rohr führt direkt zum Buchenwald des Werders und bringt reine Waldluft, ein anderes frischen Wind vom höchsten Berg der Umgebung. Doch das Wichtigste ist der Notausgang, denn er führt ansteigend direkt an den See. An seinem letzten Ende befindet sich ein kleiner Hafen, in dem ein schnelles Motorboot startbereit liegt.
Dieser Ausgang ist Falladas „Tor zum Wasser“. Niemand soll es finden können, wenn nach der verschwundenen Familie des Schriftstellers im Dorf gesucht wird. Sie hatten verbreiten lassen, dass sie auf Reisen gegangen seien. In Wirklichkeit aber haust die Familie unbemerkt in ihrer unterirdischen Höhle, im Bauch der Erde.
Und manchmal, wenn alle Arbeit getan ist, die Gänge gefegt, die Fische in den Aquarien gefüttert, sitzen sie mit den inzwischen groß gewordenen Kindern in dem kleinen Motorboot und erzählen sich Geschichten von der Welt da draußen, in der sie einmal lebten.
„Das Land sieht flach aus, ab und zu liegt zwischen den reifen Feldern ein dunkler Waldstreif. Wer es nicht weiß, kann nicht ahnen, dass jeder dieser dunklen Waldstreifen einen tief ins Land eingeschnittenen langen See bedeutet, Seen mit dem tiefsten, klarsten Wasser ... von einem bezaubernden Türkisgrün oder Azurblau“ (Hans Fallada).
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Quellen und Anmerkungen:
Hans Fallada, In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Hrsg.: Jenny Williams, Sabine Lange